Wenn ich das Privileg habe, sichtbar zu sein, nutze ich das

Stephanie Kuhnens Leseeinstieg mit Auszügen von Annemarie Schwarzenbachs Buch «Eine Frau zu sehen» stellte den direkten Bezug zum abendlichen Thema der Sichtbarkeit von Lesben her. Sie selber sagte dazu: «Je mehr ich selber sichtbar wurde, desto mehr Lesben sah ich.»
Damit direkt im Thema angekommen, ging es in den gelesenen Textauszügen um sehen – sichtbar sein und werden – was lesbische Sichtbarkeit bedeutet. Diese Auseinandersetzung findet immer auf mehreren Ebenen statt, u.a. persönlich, vor allem aber auch politisch.

Sichtbarkeit hat viele Facetten
Über 30 Frauen und 1 Mann lauschten letzten Freitag der Lesung und anschliessenden Diskussion aufmerksam interessiert und nachdenklich werdend. Sei es in Bezug auf Fördergelder, die in der Community bzw. seitens der zuständigen Gremien mittlerweile genau gleich wie in der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft verteilt werden, d.h. aufgrund männerdominierter Gesellschaftsstrukturen und deren Verteilungs- und Definitionsmacht.

Oder bei Fördergeldern für LGBT-Projekte, die gestrichen werden: Warum braucht «ihr» ein LGBT-Filmfestival? «Ihr» könnt doch jetzt heiraten.
Die Ehe für alle an sich umstritten, wenn auch Konsens besteht, dass sie ein wichtiges Recht ist – Gesetze sensibilisieren für unterschiedliche Lebensweisen und -situationen und verändern damit langfristig das Bewusstsein von Gesellschaften.
Oder ein weiterer Aspekt von Sichtbarkeit, in Bezug auf die propagiert-gewünschte Darstellung von Lesben in den Medien: Wie hat eine Lesbe zu sein, damit sie (in den Medien) «darstellungswürdig» ist?

In diesem Zusammenhang kam die Rede auch auf die Sicht- und Lesbarkeit von Lesben(Frauen) in der Sprache – ein Statement dazu: Es ist für mich wichtig, eine klare Position und Sprache als Frau und Lesbe zu haben.
Dabei ist die Frage zu stellen, inwieweit der «Buchstabensalat» hilfreich ist oder ob zu viel Inklusion, anstatt ein Gemeinschaftsgefühl zu fördern, für zunehmende Konkurrenz und für weitere Unsichtbarkeit von Lesben gesorgt hat.

Raus aus der Komfortzone
Angesichts von Rechtsterrorismus und Lesbophobie, die auch in Gewalt gegen Lesben ausufern können – Stephanie Kuhnen selbst wird, weil sie lesbische Aktivistin ist, bedroht – gilt es jetzt, wichtiger denn je: raus aus der Komfortzone und rein ins Engagement für lesbenpolitische Anliegen und für menschenwürdigen Umgang mit aktuellen politischen Problemen. Gerade auch für lesbische Migrantinnen, die, im Dilemma, sich nicht offen zeigen zu können und deren Situation darum seitens der Behörden nicht berücksichtigt wird, froh sind um lesbische Vorbilder.

Generell gilt es, sich gemeinsam einzusetzen für die Sichtbarkeit von Lesben, dafür, endlich gehört und ernst genommen zu werden, sich gegen die wohlwollend gemeinte paternalistische Fürsprache anderer Gruppierungen für Lesben innerhalb der LGBT-Community zu wehren, und auch gegen den aktuellen Rechtsrutsch, damit die europäische Demokratie nicht weiter erodiert.
Und dies endlich als gleichberechtigtes Kollektiv, weg vom Neoliberalismus mit seiner Vereinzelung und Entpolitisierung und seiner gleichzeitigen Stärkung einer männerdominierten Gesellschaft.