Vor dem Kuss ein absichernder Blick

Im Rahmen des 20. Pink-Apple-Filmfestivals in Frauenfeld vom 5. bis 7. Mai 2017 fanden zwei Podiumsdiskussionen zu den Themen «Thurgau – Hölle und Verdammnis?» und «Ostschweiz: Wo ist die Community?» statt (Queer-Lake hat darüber berichtet), zu denen sich ca. 80 Personen einfanden.

Obiger Titel entstammt der Aussage des jüngsten Teilnehmers der Diskussion, Daniel Flachsmann, am Sonntag, der bei der Gründung des Pink-Apple-Filmfestivals vor zwanzig Jahren sechs Jahre alt und für den Homosexualität damals ein Fremdwort war. Bereits anhand der Einleitungsfragen zu Veränderungen zwischen heute und vor zwanzig Jahren und den Antworten darauf wurden Vielfalt und Unterschiede in den Lebenswelten der Diskutierenden offensichtlich: Die Erfahrungen in der Ostschweiz reichten von «Ich muss eine Ausnahmelesbe sein – ich hatte damals wie heute keinerlei Probleme» (Susanne Dschulnigg) über «Die Ostschweiz war mir zu eng, darum musste ich nach Italien auswandern» (Regula Wagner) über Isoliertsein und bei Standaktionen mit Tomaten beworfen werden. Ein grosser Unterschied auch: «Damals war kein Stadtpräsident anwesend – heute bin ich hier» (Anders Stokholm).

Die Fragen im Zentrum: Wie ist die Gesellschaft vor zwanzig Jahren Menschen aus der LGBT-Community begegnet, was war damals anders, wo steht die Community heute? Im eher konservativen Thurgau hat die Kirche stets eine wichtige Rolle gespielt. Damals – wie auch heute noch – wurden Bibelpassagen gezielt ausgewählt, um gleichgeschlechtlich liebende Frauen und Männer «in die Hölle zu verbannen». Oder sie wurden in eine Klinik gesteckt mit dem Ziel, sie von der «Krankheit Homosexualität» zu heilen (Votum aus dem Publikum). Die Antwort der kirchlichen Vertreter_innen darauf heute: Je nach Bibelauslegung und -verständnis «verdammt» die Bibel Lesben und Schwule keineswegs. Aber auch hier gelte es, fundamentalistischen Bibelinterpretationen entgegenzuwirken. Die Auffassung der Familie als Kleinfamilie mit Mutter, Vater, Tochter und Sohn widerspreche dem Alten Testament, in dem stets von Sippe die Rede war (Anders Stokholm). Es scheinen tiefsitzende Ängste vor alternativen Lebens- und Liebesweisen vorhanden zu sein. Damals wie heute.

Dies bestätigen auch Vertreter_innen von LGBT-Organisationen, die u.a. mit Besuchen von Schulklassen und mit Standaktionen versuchen, ein Umdenken zu erreichen: Sie begegnen jedes Jahr denselben Vorurteilen und abstrakten Ängsten – die sich bei direktem Kontakt jeweils auflösen. Und noch ein Unterschied zu heute: Damals wurde in einem Artikel im «Thurgauer Tagblatt» eine Lesbengruppe in eine Lebensgruppe abgeändert..

So wünschen sich/fordern die Diskutierenden auf rechtlicher Ebene die Verankerung der Vielfalt an Lebensweisen im Gesetz, die Gleichberechtigung und -stellung auf allen Ebenen sowie den Zusammenhalt innerhalb der Community, das Akzeptieren von Unterschieden im Bewusstsein, dass alle am gleichen Strang ziehen und zusammenstehen müssen, um den wiederaufkeimenden rechtspolitischen Tendenzen Widerstand zu leisten und auch zu erreichen, sich ungeniert in der Öffentlichkeit küssen zu können.

Es diskutierten am Samstag: Daniel Bruttin (Moderation), Susanne Dschulnigg, Anders Stokholm, Alois Carnier.
Es diskutierten am Sonntag: Anna Rosenwasser (Moderation), Regula Wagner, Thomas Müller, Daniel Flachsmann, Roger Widtmann.

Für weitere Infos: www.pinkapple.ch

Text: Barbara Guth

Das könnte dich auch interessieren..