Interview: Sich testen lassen bringt’s

Dr. med. Axel J. Schmidt leitet die STI-Sprechstunde der Klinik für Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen. Er ist zusätzlich für das Bundesamt für Gesundheit tätig und dort zuständig für die Epidemiologie von HIV und sexuell übertragbare Infektionen (STI) bei Männern, die Sex mit Männern haben. Zuvor arbeitete er zwei Jahre für den «Checkpoint» Zürich. Als Gesundheitswissenschaftler forscht er seit über zehn Jahren zur sexuellen Gesundheit schwuler Männer, unter anderem war er an der «London School of Hygiene and Tropical Medicine» tätig. Im Interview mit Queer-Lake betont er, wie wichtig regelmässige Tests sind und er stellt das Angebot in St. Gallen vor.

Queer-Lake: Wird es geschätzt, dass du als schwuler Arzt, der teilweise in Berlin lebt und die Szene gut kennt, vor Ort bist?

Axel J. Schmidt: Sicher! Es wird sogar von mir erwartet, meine Kolleginnen und Kollegen so zu schulen, dass sie mit den Lebenswelten schwuler Männer besser vertraut sind. Entscheidend sind nämlich nicht die eigene sexuelle Identität, sondern auch eine offene und unvoreingenommene Haltung, und neben medizinischem Fachwissen auch die Kenntnis der Lebensrealitäten der Patienten. Schwule Männer merken sehr schnell, wenn die Haltung des Arztes nicht stimmt.

Wie gross ist die Bekanntheit und Akzeptanz der STI-Sprechstunde am Kantonsspital St. Gallen unter schwulen Männern in der Region?

Diese Frage ist schwer zu beantworten. Wir haben die schwulen Männer in der Region dazu noch nie befragt. Sowohl die Stadt als auch der Kanton St. Gallen sind Gegenden, aus denen schwule Männer eher wegziehen, etwa Richtung Zürich.

Das HIV-Ambulatorium des Kantonspitals hat einen guten Ruf. In den letzten zwei Jahren haben wir unser Angebot zu Geschlechtskrankheiten erheblich ausgeweitet und die Ärztinnen und Ärzte auf das Thema sexuelle Gesundheit sensibilisiert. Neben der Vermittlung von infektiologischem Fachwissen geht es auch immer um die Reduktion von Stigmatisierung sexueller Minderheiten durch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen. Denn Stigmatisierung gibt es immer noch. Erst kürzlich erzählte mir ein junger schwuler HIV-Patienten, er sei von einem anderen Arzt, bei dem er wegen eines Trippers vorstellig wurde, belehrt worden: «Mit HIV sollte man sich so schützen, dass man keine Geschlechtskrankheit bekommt oder weitergibt!». Das ist ein typisches Beispiel für eine stigmatisierende ärztliche Haltung. Hier gibt es Verbesserungsbedarf. Durch regelmässige Schulungen möchten wir erreichen, dass in unserer Klinik kein schwuler Mann sich derart absurde Belehrungen anhören muss.

Welche Aufgaben erfüllt ihr als STI-Sprechstunde und mit welchen Anliegen kommen die Klienten zu Euch?

Wir sind die Anlaufstelle für alle Fragen zur sexuellen Gesundheit, insbesondere für Männer. Die STI-Sprechstunde ist zwar in die Klinik für Infektiologie eingebettet, aber wir haben einen breiteren Ansatz. Vieles dreht sich um Aufklärung, Wissensvermittlung, den Umgang mit Ängsten und Scham. Wenn beispielsweise jemand wegen Feigwarzen oder einer Analfissur am Anus operiert werden muss: wir haben eine exzellente Zusammenarbeit mit den Kollegen und Kolleginnen von der Proktochirurgie am Kantonsspital.

Sind HIV-Tests nach wie vor wichtig?

Wir empfehlen jedem schwulen Mann mit wechselnden Partnern, einmal pro Jahr einen HIV-Test machen zu lassen. Ausserdem bei Grippesymptomen nach ungeschütztem Analverkehr! Auch bei schwulen Männern werden HIV-Infektionen manchmal erst sehr spät erkannt, obwohl sie sich häufiger testen lassen als alle anderen Bevölkerungsgruppen. HIV ist nach wie vor nicht heilbar, und eine frühzeitige Behandlung ist die beste Garantie für ein langes und sorgenarmes Leben mit HIV. Im Moment bieten wir schwulen Männern mit wechselnden Sexualpartnern im Rahmen einer Studie ein kostenloses Paket an, in dem neben HIV und Syphilis noch vier weitere relevante bakterielle Erreger getestet werden. Etwa bei jedem vierten Mann finden wir etwas, das behandelt werden muss.

Und woher kommt diese Häufigkeit?

Das liegt daran, dass Geschlechtskrankheiten – gerade wenn sie am Anus auftreten – ohne entsprechende Tests häufig unerkannt bleiben. Wichtig ist also nicht nur, dass mindestens jährlich getestet wird, sondern dass auch das richtige gesucht wird, und am richtigen Ort. In der Schweiz wird weniger als 10 Prozent der Männer eine anale Untersuchung angeboten. Das ist nicht nur unangemessen, das ist eine Katastrophe. Viele Ärzte machen sich durch eine ignorante Haltung mitschuldig an der Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten wie Tripper und Chlamydien. Und es wird wohl noch lange dauern, bis sich die Erkenntnis durchsetzt – nicht nur bei schwulen Männern – dass die meisten Geschlechtskrankheiten trotz Verwendung von Kondomen übertragen werden.

Wie häufig sollten sich schwule Männer auf Geschlechtskrankheiten testen lassen?

Das hängt davon ab, wie viele Partner jemand hat, und was er sexuell alles mit ihnen macht. Spätestens alle zehn Partner. Das bedeutet auch: Franchise runter – denn sonst wird es teuer.

Aktuell wird viel über PrEP (Präexpositionsprophylaxe ) als «chemisches Kondom» diskutiert. Wie wirkt PrEP und wie stehst du dazu?

Die sogenannte PrEP ist eine orale Chemoprophylaxe. Dabei werden Medikamente, die ursprünglich für die Behandlung der HIV-Infektion entwickelt wurden, vorbeugend eingenommen. Aus meiner Sicht ist die PrEP eine wichtige Ergänzung für die HIV-Prävention. Allerdings bin ich der festen Überzeugung, dass sie nur für eine Minderheit schwuler Männer von Bedeutung ist: für jene, die grosse Schwierigkeit haben, immer und zuverlässig Kondome zu verwenden. Prophylaktisch einzunehmende Medikamente werden in der Schweiz nicht von der Krankenversicherung bezahlt. Der aktuelle Preis einer PrEP von monatlich 800 Franken ist nur für eine Minderheit der Minderheit, für die eine PrEP sinnvoll ist, erschwinglich. Im Alltag werden daher individuell Generika aus dem Ausland importiert. Jede PrEP muss ärztlich begleitet werden. Selbstverständlich bieten wir diese ärztliche Begleitung auch in der Klinik für Infektiologie des Kantonsspitals an. Wir stehen in diesen Fragen in engem Kontakt mit den Schweizer «Checkpoints», der Schweizer und der Deutschen AIDS-Hilfe, und mit dem grössten Gesundheitszentrum für Schwule Männer in Europa, der Dean-Street 56 in London. Die Nachfrage nach PrEP ist jedoch gering und steht in keinem Verhältnis zum «Hype», der aktuell darum gemacht wird.

Welche Wünsche oder Erwartungen hast du an die lokale Szene oder an die hier tätigen Fachstellen?

Ich wünschte mir, dass unser Angebot noch bekannter wird. Derzeit hat etwa jeder vierte Mann, der zu uns kommt, sexuelle Kontakte zu Männern. Dieser Anteil darf gerne noch grösser sein.

Wie sieht die Zusammenarbeit über die Landesgrenzen in der Bodenseeregion aus?

Wir arbeiten eng mit der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen, der AHSGA, zusammen. In der Sauna Mann-o-Mann bieten wir viermal im Jahr eine Sprechstunde an. Die AHSGA ist gut vernetzt mit der Aids-Hilfe Vorarlberg in Bregenz. Die länderübergreifende Zusammenarbeit ist aber sicherlich ausbaufähig.

In grösseren Schweizer Städten gibt es spezielle «Checkpoints». Das sind Gesundheitszentren für homosexuelle Männer. Wäre so etwas auch in St. Gallen denkbar?

Wir begreifen unsere Sprechstunde durchaus als einen kleinen «Checkpoint». Im Unterschied zu den fünf Schweizer «Checkpoints» sind wir jedoch Teil einer Klinik, und nicht Teil eines Community-Projekts mit vorwiegend oder ausschliesslich schwulem Personal. In den grossen Schweizer «Checkpoints» in Zürich und Lausanne werden auch schwule Männer mit einer HIV-Infektion betreut. Das ist in der europäischen «Checkpoint»-Landschaft einzigartig. Als Klinik für Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen betreuen wir seit den 1980er-Jahren ebenfalls schwule Männer mit HIV. Insofern ist unser Gesamtangebot durchaus vergleichbar mit dem Angebot der beiden grossen Schweizer Checkpoints. Unsere STI-Sprechstunde (STI = sexual transmitted infections / sexuell übertragene Infektionen) ist fünf Stunden pro Woche geöffnet, vergleichbar lang wie die «Checkpoints» Basel und Bern. Doch anders als Basel oder Bern ist St. Gallen kein schwuler «Hotspot». Insofern glaube ich nicht, dass wir hier zusätzlich einen «Checkpoint» brauchen.

Interview: Jürg Bläuer
Redaktion: René Hornung