Gesellschaftstanz – vorwärts freier gleich rückwärts

Die Lesbenorganisation Schweiz (LOS) hat im Herbst letzten Jahres auf die Diskriminierung von Lesben durch Schwule, Medien und die Öffentlichkeit aufmerksam gemacht. Zu diesem Thema hier ein Essay von Barbara Guth, das die grösseren Zusammenhänge beleuchtet.

Auslöser für diesen Bericht über die «Unsichtbarkeit» von Lesben war eine Diskussion mit einem schwulen Kollegen über Sexismus und Gleichberechtigung der Geschlechter. Resultat: Ich schreibe darüber. Widerstreit setzte ein. Das Thema zweifellos wichtig, aber: Was ist bis 2017 nicht klar geworden? Muss ich wirklich nochmals aufzeigen, was Frauen längst schon erkannt, analysiert, kommuniziert haben? Ist das in Köpfen und Herzen noch immer nicht angekommen?

«Eine Voraussetzung für den Frieden ist der Respekt vor dem Anderssein und vor der Vielfältigkeit des Lebens.» Dalai Lama

Langes Nachdenken, wie ich schreiben soll. Ich wusste, es würde ein Artikel aus einem Gemisch aus subjektiven und objektiven Fakten werden. In dem ich weder einen wissenschaftlichen Ansatz noch einen journalistischen Regeln entsprechenden Text präsentiere. Ich arbeite mit Erfahrungen, Beobachtungen, Gelesenem.

Es befinden sich sieben Personen in einem Raum, sechs Frauen und ein Mann. Jemand betritt den Raum – wer wird angesprochen? Unabhängig von Alter und Geschlecht der Person, die den Raum betritt, unabhängig von der Funktion der Personen, die sich im Raum befinden, wird der Mann angesprochen.

Dies ein Beispiel für alltägliche Verhaltensweisen, automatisch wird der männlichen Person die Kompetenz zugeschrieben, das Anliegen der neu eintretenden Person klären zu können. Ein vermeintlich harmloses Beispiel. Wenn ich solches Verhalten, solche Verhaltens- und Denkweisen, Stereotype (und daraus Ungleichbehandlungen, Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten) weiter beobachte, kommen wir ziemlich schnell von harmlos weg.

Von profan bis ins Kleinste.
Angela Merkel beispielsweise wird in den Medien oft «Mutti» genannt. Das sagt gleich ziemlich viel. Abwertung als Politikerin, Fachfrau, Frau, Mutter – eine der mächtigsten Frauen der Welt. Nachdem sich die Kritiken über ihre Frisur, Kleidung etc. erschöpft hatten.

Ich muss das schreiben. Wiederholen, wofür Frauen seit ewig kämpfen, aufzeigen, dass sich auch heute noch Stereotype, Rollenzuschreibungen, Ungleichbehandlungen, Ungerechtigkeiten aufgrund des Geschlechts hartnäckig halten – das Patriarchat scheint sich zwar aus dem Wortschatz verabschiedet zu haben, im Verhalten von Menschen hat es unter dem Deckmantel der Moderne weiterhin seinen festen Platz. Von Heteronormativität ganz zu schweigen. Kurz: Mann bevorteilt, für natürliche gehaltene Einteilung der Gesellschaft in Mann und Frau.

Gedankensprung. Über vorige Ausführungen greife ich auf eine kürzlich durchgeführte Umfrage der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen St. Gallen-Appenzell zurück. Im Rahmen des Projekts COMOUT erfolgten über 100 Besuche an Schulen, 15 an Berufsschulen, bei denen 16- bis 22-jährige Jugendliche zu ihrem Wissen und ihrer Haltung in Bezug auf Homosexualität befragt wurden.

Fazit:

  • Die Antworten von weiblichen und männlichen Jugendlichen fallen unterschiedlich aus, 70% der ersteren, 50% der letzteren befürworten eine rechtliche Gleichstellung von Lesben und Schwulen.
  • 76% Prozent der jungen Frauen akzeptieren Lesbischsein, 37% der jungen Männer Schwulsein.
  • Wenn es jedoch um persönlich erlebte Coming-outs geht, akzeptieren das nur 7% der männlichen Jugendlichen, 43% reagierten ablehnend.
  • Circa die Hälfte der weiblichen Jugendlichen ist offen gegenüber dem Coming-out eines Kollegen, ein Fünftel ablehnend, und 27% ablehnend beim Coming-out einer Kollegin.

Und: «Zusammenfassend muss man feststellen: Einer vordergründigen Toleranz steht vor allem bei Männern eine Mauer von Ablehnung gegenüber, wenn es um das Coming-out von Nahestehenden geht, dazu kommen eine erhebliche Unsicherheit und Unwissen im Hinblick auf Homosexualität. Sozial erwünschte Antworten erweisen sich im Realitätscheck als brüchig

Weiter im Thema. Ich bin nun 45 Jahre alt und denke, seit ich denken kann, über solch gesellschaftliche Themen nach. Als Kind über Ungerechtigkeit. Später immer noch, erweitert durch die Begriffe Lernen, Erfahren, Nachdenken. Und Stereotype. Geschlechternormen und Rollenzuschreibungen. Abwertung der Frau. Machtverhältnisse. Geschlechterhierarchien. Ungleichbehandlungen. Ungerechtigkeiten. Heteronormativität. Einerseits aufgrund der Gesellschaftssysteme. Andererseits aufgrund der Individuen, die sich darin bewegen. Oder nicht bewegen. Oder die Dynamik der Gesellschaft, dass nach Schritten vorwärts unweigerlich Schritte rückwärts folgen.

Oder mit Carolin Emckes Worten:
«Gewiss, es gab immer diese unterschwellige Abwehr von Menschen, die als anders oder fremd wahrgenommen wurden. Das war nicht unbedingt spürbar als Hass. Es äusserte sich in der Bundesrepublik meist mehr als eine in soziale Konventionen eingeschnürte Ablehnung. Es gab in den letzten Jahren auch ein zunehmend artikuliertes Unbehagen, ob es nicht doch langsam etwas zu viel sei mit der Toleranz, ob diejenigen, die anders glauben oder anders aussehen oder anders lieben, nicht langsam auch mal zufrieden sein könnten. Es gab diesen diskreten Vorwurf, nun sei doch seitens der Juden oder der Homosexuellen oder der Frauen auch mal etwas stille Zufriedenheit angebracht, schliesslich würde ihnen so viel gestattet. Als gäbe es eine Obergrenze für Gleichberechtigung. Also dürfen Frauen oder Schwule bis hierher gleich sein, aber dann sei auch Schluss. Ganz gleich? Das ginge dann doch etwas zu weit. Das wäre dann ja … gleich.» («Gegen den Hass», 2016)

Und dann der Begriff des Sexismus, seit 1980 erstmals im Duden aufgeführt.
1980 war ich 9 Jahre alt und habe den Duden noch nicht benützt. 36 Jahre später frage ich mich, wie es sein kann, dass Sexismus erst seit dann darin steht. Na gut, Bioladen und Waldsterben stehen auch erst seit 1989 darin. Und die Hochrechnungszeit für die Aufnahme von Wörtern in den Duden liegt schätzungsweise zwischen 10 und 20 Jahren. Trotzdem. Die Wurzeln reichen weiter zurück. Der Begriff Heteronormativität findet sich übrigens (noch) nicht im Duden.

Sexismus nach Duden: (Diskriminierung aufgrund der) Vorstellung, dass eines der beiden Geschlechter dem anderen von Natur aus überlegen ist. Oder nach Terre des Femmes: «Sexismus bezeichnet jede Form von Gewalt, Ausbeutung, und Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.» Und weiter: «Gleichzeitig benennt Sexismus Identitäts- und Verhaltensanforderungen, die an eine Person oder Gruppe von Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung gestellt werden.»

Duden und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Widerstreit: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.»

Wir haben uns in der Schweiz vorwärtsbewegt. Und wieder rückwärts. Wie obige Befragung einer begrenzten Anzahl Jugendlicher zeigt. Lesbisch- oder Schwulsein ja, ok, aber bitte nicht zu nah, nicht in meinem Umfeld.
Und was heisst «gleich»? Gleich im Sinne von Gleichbehandlung, gleichen Rechten, frei von Geschlechtsstereotypen, wie ein Mensch zu sein hat, und daraus resultierenden Diskriminierungen. Das heisst Orientierung nicht an traditionellen Rollenbildern, sondern an «der Vision einer Gesellschaft von selbstbestimmten Individuen, in der dem Merkmal Geschlecht nicht mehr Wirkungsmächtigkeit als beispielsweise dem Merkmal Haarfarbe zukommt.» Und die Menschen die ganze Bandbreite, die der Begriff Vielfalt bietet, als gleich erachten.

Frauen dürfen also seit einer Weile arbeiten gehen. Nicht zu hoch hinaus, nicht zu gleich. Strukturelle Ungleichheit etwa bei den Löhnen ist immer noch ein grosses Problem. Ebenso erhalten Projekte, Kampagnen mit «Frauenanliegen» grundsätzlich weniger staatliche Fördergelder. Daraus folgt: Wer mehr Macht und Mittel hat, kann sich leichter bemerkbar machen.

Doch das alles wird gerne ebenso verleugnet wie noch immer existierender Sexismus. 2016 fragt Carolin Emcke weiter:
« … Woran glauben eigentlich diejenigen, die an die Kategorien der ‹Natürlichkeit› und ‹Ursprünglichkeit› denken? Warum sollte sich in der nachmetaphysisch aufgeklärten Moderne aus der Tatsache, dass etwas in einer bestimmten Form erstmals in die Welt getreten ist, irgendein Rechtsanspruch oder irgendein höherer Status ableiten? Wie verkoppelt sich die Legitimation von Macht mit einer bestimmten Idee von ursprünglicher, natürlicher Ordnung?» («Gegen den Hass», 2016)

Wer sagt also, was richtig und falsch ist, natürlich und unnatürlich? Welche Ordnung wird gestört? Stereotyp meint eine im Alltagswissen präsente Beschreibung von Personen oder Gruppen. Vorstellungen, wie jemand zu sein hat. Oder wer aufgrund welcher Kriterien gewisse Rechte zu haben scheint. Oder wie obige Studie zeigt: Unwissen. Auch daraus resultieren homo- oder transphobe Haltungen. Es beginnt früh mit ablehnenden Reaktionen, selbst unter Freund_innen und Kolleg_innen.

Die Themen mischen sich. Rechtliches und Menschliches. Diskriminierung, Benachteiligung von Frauen. Lesben und andere queere Menschen sind im traditionellen Gesellschaftssystem nicht vorgesehen. Starres Denken, starre Begriffe schliessen Entwicklung, Gleichstellung und gleichzeitig Diversität hartnäckig aus. Und Sprache schafft Wirklichkeit. Begriffe sind die Basis für selbstbewusste Identitäten, gleichzeitig aber auch für Stigmatisierung und Ausgrenzung.

Zusammengefasst bisher: Abwertung der Frau in ihren vielseitigen Rollen. Traditionelle Geschlechternormen und deren Rollenzuschreibungen und -hierarchien, welche 2017 immer noch die Ursache für Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten, Sexismus, oftmals Gewalt, sind. Für Frauen, für diejenigen, die als «anders» abgeurteilt werden. Weil zwar vermeintlich niemand mehr so denkt. Aber danach handelt. In der Schweiz. Von «weltweit» ganz zu schweigen.

Menschen neigen nicht nur dazu einzuteilen, sondern auch zu bewerten, abzuwerten und damit zu spalten – selbst innerhalb der LGBT-Bewegung. Selbst innerhalb der einzelnen Gruppierungen. Ich bin besser, stärker, richtiger als du… Kategorisieren. Hierarchisieren. In der Community, in der Vielfalt stets ein Grund zu Stolz war, spielen die gleichen gesellschaftlichen Phänomene wie sonst in der Gesellschaft, bestimmen Geschlechterstereotype den Umgang miteinander, herrschen Vorstellungen, wie jemand zu sein hat. Ich spreche hier sowohl von schwulem Sexismus als auch von Transphobie. Es wird eingeteilt, abgewertet, verspottet, abgelehnt. Was die gesamte Bewegung schwächt. Wenn es denn eine solche gibt. Wenn eine Frau zu männlich erscheint, ein Mann zu feminin – dabei bietet Diversität eine ganze Auswahl an Sein. Angst vor zu viel Freiheit? Vor Gleichheit? All das schwächt die gesamte Bewegung. Politischen Aktionen wird so der Wind aus den Segeln genommen, auch seitens der Medien. Schwule Themen gehören dort heute zum guten Ton. Mit einem Fokus auf erfolgreiche, weisse, schwule Männer. Und auf traditionelle Rollenbilder. Lesbenthemen hingegen verkaufen sich weniger gut.

Und woher soll also Toleranz kommen, wenn selbst bei Jugendlichen bereits Angst und Unwissen herrschen? Ein schwuler Kollege oder eine lesbische Kollegin könnte sich an sie ranmachen? Eine groteske Vorstellung, Heterosexuelle laufen auch nicht rum und verlieben sich in jedes andere herumlaufende Wesen. Unfassbar vorhanden scheint der Glaube an männliche Verfügungsgewalt – patriarchales Denken in Reinkultur.

1994 musste ich mir anhören, lesbische Frauen sollten keine Mädchen trainieren, das sei zu gefährlich. Fünf Jahre vorher hiess es, dass weibliche Jugendliche und Frauen keinen Spitzensport ausüben sollten. Die typische Diskriminierung als Frau und als Lesbe. Es ist nicht gelungen, mir dieses männliche Denken überzustülpen. Wohl auch deshalb nicht, weil in meinem Umfeld von 50 Frauen etwa 48 sexuelle Übergriffe erlebt haben. Und es Frauen selten in den Sinn kommt, ihre Macht sexuell zu missbrauchen.

«Das im März 2013 verabschiedete Dokument der UNO-Kommission für die Stellung der Frau nennt als Wurzel der Gewalt gegen Frauen und Mädchen die Ungleichheit der Machtverhältnisse und betont die untrennbare Verlinkung von Geschlechtsstereotypen mit dem Missbrauch der Macht

Lesben werden doppelt diskriminiert, als Frauen und als Lesben. Während schwule Männer aufgrund ihres Geschlechts Vorteile haben, erleben Frauenpaare auch 2017, wenn sie gemeinsam unterwegs sind, Pöbeleien und Angriffe, verbal oder körperlich. In der Schweiz. Am Arbeitsplatz, im Verein, auf der Strasse, kann überall passieren. Klar, manchmal trifft es auch Schwule. Und allein in den vergangenen 12 Monaten wurden in 33 Ländern 295 Transpersonen ermordet.

Auch 2017 bleibt es dabei: Frauen hatten schon immer mit ihrer Unsichtbarmachung zu kämpfen. Und werden diejenigen, die sichtbar sind, ihre Stimme erheben, Verantwortung übernehmen, angegriffen und abgewertet. Selbst aus den eigenen Reihen. In den Medien. Warum sich also zeigen? Dabei hat es Frauenräume immer gegeben. Zwei, drei und mehr Geschlechter auch. Dann kam Zäsur. Um der Machtverhältnisse willen. Damit alles seine Ordnung hat. Eine unnatürliche. Und nun habe ich gerade von einer Studie in Altersheimen gelesen, wie es um Wissen, Umgang und Sichtbarkeit von LGBT-Menschen steht. Die Betroffenen halten sich still. Unsichtbar. Angst vor Diskriminierung und Übergriffen, wie gesagt. Abwertung, Verurteilung, Ablehnung.

Und als «harmloser» Abschluss: Wer nur einen Funken Verstand, Anstand und Gespür besitzt, weiss genau, welche Komplimente gegenüber und Berührungen von und Witze über Menschen angebracht sind und welche nicht. Und wer über Respekt, Toleranz, Akzeptanz, Solidarität nicht nur spricht, sondern sie lebt. Und bereit ist, über mehrfach in diesem Artikel aufgeführte Begrifflichkeiten und Probleme nachzudenken, anstatt zu behaupten, diese Probleme gebe es nicht. Nicht Vielfalt ist unnatürlich, sondern unnatürlich ist, sich nicht weiterentwickeln, nicht lernen zu wollen.

Ein Faden ergibt den nächsten, ich könnte wieder von vorne zu schreiben beginnen. In diesem Nachdenken hänge ich, könnte das Netz weiterspinnen. Für jetzt genügt’s – es ist ein gutes Nachdenken. Wir haben nun die Rückschritte – also wird es wieder vorwärts gehen. Und heute, da ich sprichwörtlich im Mittelalter angekommen bin, denke ich immer noch nach. Über diesen Gesellschaftstanz, vorwärts, rückwärts, und Machtstrukturen, die immer alte und neue soziale Ungleichheiten produzieren.

Darum ist die von der LOS angefachte Diskussion über schwulen Sexismus so wichtig – und das Statement von Tobias Kuhnert, Queeramnesty, so willkommen. Er äusserte sich zu einer Umfrage auf einer LGBT-Plattform, die gefragt hatte, ob es schwulen Sexismus gegenüber Lesben gibt, folgendermassen:

«Diese Frage kann gar nicht mit Nein beantwortet werden. Was die LOS berichtet, ist schwuler Sexismus: Sexismus (Abwertung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts), der von Schwulen ausgeht. Da gibt es nichts zu diskutieren. Was ihr fragen könnt ist, ob mensch schwulen Sexismus wahrnimmt oder ihn als Problem anschaut. Die Frage (Gibt es schwulen Sexismus?) hingegen ist purer patriarchaler Sexismus: Sie ermöglicht es, die sexistischen Erfahrungen, die Frauen* machen, komplett zu negieren und spricht den Betroffenen damit ihre Mündigkeit ab.»

Der Gesellschaftstanz geht also weiter, vorwärts in der Hoffnung auf gemeinsame Schritte und ein Wir, das ungleich gleich wieder stolz ist.

Text: Barbara Guth

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